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Die Entfesselungs-Künstlerin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 9 Min.
»Nicht gegen die Männer können wir uns emanzipieren, sondern nur in der Auseinandersetzung mit ihnen. Geht es doch um die Loslösung von alten Geschlechterrollen, um die menschliche Emanzipation überhaupt.« (Maxie Wander)
Gestern vor siebzig Jahren wurde Maxie Wander in Wien geboren. 1956 ist sie in die DDR gekommen; freiwillig! Das erschien mir, als ich 1979 (mit vierzehn) das erste Mal von ihr hörte, ganz unerhört. Die meisten meiner Verwandten waren längst aus der DDR weggegangen. Nun hatte diese Österreicherin DDR-Frauen interviewt. »Guten Morgen, du Schöne« avancierte zum Kultbuch, auch in unserer 9. EOS-Klasse. Die FDJ-Sekretärin, die unter dem Schock der militanten FDJ-Kampagne gegen das pazifistische »Schwerter-zu-Pflugscharen«-Symbol (NATO-Doppelbeschluss) kurz darauf in die geistige Obhut der Jungen Gemeinde flüchtete und heute Pfarrerin ist, besaß eines der begehrten Exemplare aus dem Buchverlag Der Morgen - womit sie einen FDJ-Nachmittag veranstalten wollte. Ich, ihr Agitator in der FDJ-Leitung, brauchte nun auch ein Exemplar und ließ das meine in dieser Hinsicht verlässliche Verwandtschaft wissen. Sie besorgte immer alle Bücher, die man brauchte, um die DDR zu verstehen; von Stefen Heyms »Collin« und »Schwarzenberg« bis zu Orwells »1984«. Maxie Wanders Gesprächsprotokolle mit DDR-Frauen waren, wie auch ihre Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, bei Luchterhand erschienen, das Tagebuch einer Krebserkrankung unter dem Titel »Leben wär ein prima Alternative«. Ich erinnere mich an mein Erstaunen über die selbstverständliche Kraft und zarte Poesie der Selbstauskünfte, als wir Halbwüchsigen uns diese Protokolle vorlasen. Das war ein anderer Ton als der des »sozialistischen Realismus« mit seinem uns künstlich und fremd, ja feindlich anmutenden »Wir-Bewusstsein«. Und nun? Post-68er Aufbruchsstimmung, Rebellion gar? Nein, aber ein Gespür für die Unhintergehbarkeit des Marx-Wortes, dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung der Freiheit aller ist. Nicht von einer politischen Fanfare begleitet, nicht anklagend oder für irgend etwas aufrufend, sondern sehr verinnerlicht, sehr tief, sehr poetisch. Nichts konnte Parteien, Initiativen, Manifesten und Aktionen ferner sein als dieses Bewusstsein. War es Widerstandsliteratur? Nein, es bewegte sich auf einer anderen Ebene als der des bloßen Dafür oder Dagegen. Darin lag ja gerade die Glaubwürdigkeit dieses Buches: im widersprechenden Dafürsein und im fürsprechenden Dagegensein. Es war nicht einfach aufzulösen, denn es betraf die eigene Biografie. In der DDR als ideologisch ritualisierter Mangel-Gesellschaft gab es einen großen Konsens von Männern und Frauen im Benennen dessen, was sie be- und unterdrückte. Dass Maxie Wander dennoch inmitten dieser übergreifenden Perspektive ein feines Sensorium für die Geschlechterspezifik darunter besaß, macht »Guten Morgen Du Schöne« zu etwas so Besonderem. Was träumen Frauen Mitte der siebziger Jahre in der DDR? Lena K., 43, Dozentin an der Hochschule für bildende Künste, verheiratet, drei Kinder: »Letzte Nacht habe ich wieder einen meiner Kafka-Träume gehabt. Die träume ich immer dann, wenn ich am Verhungern bin. Ein Traum von sanfter Liebe mit einem, dessen Gesicht ich nicht sehe. Und ich renne früh in die Stadt, wo sie am dichtesten ist, und ich will ihn wiederfinden. Aber ich habe einen dicken Bauch und eine alte Brust, und es ist zu spät.« Denn letztlich geht es immer um eines: um Liebes-Sehnsucht, die größer ist als alle Erfüllungen, die Wirklichkeit zu bereiten vermag. Sollte man in diesem Überschuss an Unstillbarem auch einen Reichtum sehen? Christa Wolf hat in ihrem Text zu Maxie Wander geschrieben, dass Frauen der »einfache Rollentausch« nicht glücklich mache. Die Sensibilität der Frauen könnten auch Männer als Chance für sich begreifen. Davon, dass Frauen mit ihrem ganzen Körper verstehen, lesen wir bei Maxie Wander. Christa Wolf: »Diese Entdeckung, noch sehr verletzlich, sehr wenig gefestigt, sollten wir hüten; sie könnte, vielleicht, dazu beitragen, den erbarmungslosen, menschenfremden Rationalismus solcher Institutionen wie Wissenschaft und Medizin wenigstens in Frage zu stellen.« Wie gegenwärtig uns diese Texte doch sind! Weil sich uns darin ein Maß von Offenheit und Vertrauen mitteilt, das heute einem allgegenwärtigen Misstrauen gewichen ist. Allzu große Offenheit könnte karriereschädigend sein, man verbirgt sich hinter Masken der Beflissenheit. Erika, eine Dramaturgieassistentin, 43: »Vielleicht ist das Emanzipation, daß Dinge, die früher zu Katastrophen geführt haben, heute kein Problem mehr sind. Daß eine Frau sagen kann: Wenn du nicht mitmachst, dann mach ich das alleine. Obwohl das nicht einfach ist.« Dieser Mut zum Alleinsein, der bei Frauen größer scheint als bei Männern, er ist auch die Basis aller Gemeinschaft: dass sie aufkündbar ist, wenn die Bedingungen ihrer Entstehung (Liebe, Vertrauen) nicht mehr existieren. Darum haben Frauen, weniger karrierefixiert als die meisten Männer, eher den Rückzug aus der staatlich beherrschten Öffentlichkeit angetreten, sich jener Erich-Mielke-Machtanmaßung (»Ich liebe euch doch alle!«) entzogen, weil sie dahinter das unausgesprochene Selbstverständnis spürten: »Ich kontrolliere doch alle!« Christa Wolf sagt, das sei der klassische Tragödienstoff anders herum erzählt, wenn eine Frau zu Maxie Wander - die nicht a u s h o r c h t sondern z u h ö r t - sagt: »Er ist mir gleichberechtigt, weil ich ohne ihn ja auch auskomme.« Diese selbstbewusste (im Kern weibliche) Reformatorenlogik, die das Gegenteil einer die Restauration schon im Gefolge heraufführenden Revolutionsideologie ist, legte den sich auf nichts mehr gründenden Machtanspruch der alten SED und damit des Staates DDR bloß. Frauen haben ein feines Gespür dafür, wenn etwas wie Nötigung oder gar Vergewaltigung in der Luft liegt: »Ich hatte unbeschreibliche Sehnsucht, wenn mich einer mit dem Finger berührte, aber wenn er dann Besitz von mir ergriff, war ich tot und ausgelöscht.« So die Dozentin Lena. Maxie Wander empfand sich in ihrem Haus in Kleinmachnow, wo sie mit ihrem Mann Fred Wander seit 1959 wohnte, als dazugehöriger Störfaktor. Sie lebten »außerhalb aller Regeln« (Fred Wander) zum Missfallen der Nachbarn, die sie als Spießer bekriegte und dennoch weiter unter ihnen lebte. Dort kam auch ihre zehnjährige Tochter Kitty in einer Baugrube zu Tode. Wie wichtig war es, dass jemand in die DDR-Provinz übersiedelte mit Welt im Gepäck! Hätte uns das Wissen, dass die Welt überall Provinz ist (was wir nicht wissen konnten, weil man uns nicht rausließ) nachsichtiger der DDR-Provinz gegenüber gemacht? Emanzipation ist ein der Aufklärung verwandtes Wort. Es bedeutet: Befreiung aus Bevormundung, Wille zur Gleichstellung, Loslösung von alten Fesseln. Aber was kommt nach der Entfesselung? Bleibt nur die dauerhafte Bindungslosigkeit, eigene Freiheit zu bewahren, oder gibt es Bindungen, die keine Fesseln sind? Als ich Stefan Heym kurz vor seinem Tode über das Thema Liebe interviewte, fing er mit seiner Frau Inge Heym zu zanken an. Er sei doch immer gegen die Emanzipation gewesen, hielt sie ihm vor. »Ich? Entschuldige, ich emanzipiere mich täglich.« Das holt den Begriff der Emanzipation aus der Ecke. Nur als permanente Selbst-Emanzipation taugt er etwas. Emanzipation, das Wissen also, dass jeder als Einzelner für sich beginnen muss, war im Westen ein Kollektivunternehmen. Feminismus politisierte sich im Geschlechterkampf. Mit welchem Resultat? Leben wir heute wieder in einem post-emanzipatorischen Zeitalter? Eher gewohnheitsmäßig weise ich meine Tochter (15 Jahre) zurecht, wenn sie wieder einmal höhnisch von »Kampf-Lesben« spricht, so wie vor dreißig Jahren die CSU, die da noch offensiv forderte, die Bestimmung der Frau sei die Mutterschaft und das Hüten von Herd und zahlreichen Kindern. Vorbei. Selbst Stoiber suchte sich eine unverheiratete Mutter für den Wahlkampf. Die sich immer noch bahnbrechend vorkommenden Vorkämpfer von Gestern scheinen heute nur noch komische Ornamente von Selbstverständlichkeiten. Beweist das nun die gesellschaftsdurchdringende Wirkung des Feminismus, oder gerade seine Verfehltheit als Ideologie? Über Alice Schwarzer, die Stimme der Frauenbewegung, schrieb taz-Chefredakteurin Bascha Mika ein wenig schmeichelhaftes Buch, in dem sie dieser ein »tyrannisches Naturell, Härte im Umgang mit ihren Mitarbeitern und ein unwirsches Bedürfnis, andere zu dominieren« bescheinigte. Der Rollentausch allein führt eben doch wieder zum gleichen Ausgangspunkt - dem Mangel an einer Kultur von Formen menschlichen (also machtfreien) Miteinanderumgehens. Die Überpolitisierung des Privaten in den 68er Gesellschaftstheorie-Szenarien, aus denen auch der politische Feminismus hervorging, konnte zwar in einer bestimmten Situation Tabus brechen (Abtreibung!) - aber mit der folgenden Entpolitisierung gerieten auch diese Bewegungen in den Hintergrund, weil man nicht immer dieselben Kämpfe ausfechten kann, wenn diese als politische längst ausgefochten sind und nun eine andere, eine kulturelle Dimension besitzen. Plötzlich befindet man sich in einem Gespräch jenseits der Polemik, wo man ausgleichen und vermitteln muss. Frauen sind flexibler, belastbarer und moderierender als Männer. Aber bevor hier wieder falsches Idealisieren einsetzt, lesen wir in »Guten Morgen, du Schöne«: »Zweifeln, Forschen, Fragen, das sind alles Dinge, die uns abhanden gekommen sind.« Was auffällt an den Protokollen, ist, dass keine der Frauen sich irgendwie rollengemäß zu verhalten sucht. Das scheint mir ein wirklicher Unterschied zwischen Ost und West zu sein. Im Osten erwuchs den Frauen, genauso schwer oder auch schwerer als Männer arbeitend, mit der Familie zusätzlich belastet, den Alltag im Mangel improvisierend, zwischen staatlichem Anspruch (um nicht zu sagen: Zugriff) auf den Einzelnen und privater Sphäre vermittelnd, kontinuierlich ein eigenes starkes Selbstbewusstsein. Im Westen fügte man sich lange der katholisch-traditionell vorgegebenen Rolle: Haus und Kinder, der Mann als Geldverdiener. Dann der feministische Angriff auf diesen faulen Hausfrieden, die Frauenbewegung entstand, erstritt sich debattierend und politisierend in der Folge der (machohaften!) 68er-Bewegung ebenso machtbewusst eigene Felder - und verhielt sich wieder rollengemäß, diesmal feministisch. Der westliche Aktions-Feminismus hat im Osten nach der Wende nie Fuß gefasst. Stattdessen outet sich die Avantgarde von gestern als tragikomischer Gralshüter von heute. Wenn die Ikone des Feminismus Alice Schwarzer der Ikone des Pop-Events Verona Feldbusch erklärt, sie sei nur das Produkt männlicher Fantasien, und die Business-Frau glaubhaft kontert, der Mann, der sie linken wolle, müsse aber ausgeschlafener sein als Dieter Bohlen - dann ist hier frauliches Selbstbewusstsein an einen Punkt gekommen, wo es - jenseits aller Rollenklischees - zwar nicht das eigene Leben, aber zumindest die eigene Vermarktung selbst übernimmt. Womit Alice Schwarzer plötzlich fundamentalistischer aussieht als sie ist. Denn nach Verona Feldbusch kommt natürlich das nächste glatte Gesicht mit dem nächsten plappernden Mund - und die ernsthafte Alice Schwarzer wird entweder mehr und mehr zur Vorsteherin eines Folklorevereins, oder es gelingt ihr die Selbsterneuerung in der Ent-Ideologisierung. Das Beispiel Verona Feldbusch zeigt, dass die Emanzipation weiter ist, als die Ideologie ihrer eigenen Militanz wegen zugeben will. Und doch bemerken wir es mit einem gewissen Unbehagen, denn Emanzipation hatten wir uns als etwas Schönes und Freies vorgestellt, nicht als Optimierung von bloßer Schlauheit. Aber die Feldbusch ist Realität, und wer eine andere Emanzipation will, der ist schon wieder bei der Utopie des mit seiner eigenen Natur versöhnten Menschen (egal ob Mann oder Frau). Eine Kulturanstrengung! »Guten Morgen, du Schöne« blieb einmalig, auch wenn nun das Interview- Genre, das Protokoll-Buch, boomte (so die ziemlich kraftmeiernden »Männer-Protokolle« Christine Müllers). Christa Wolf schrieb, nur scheinbar fehle den siebzehn Protokollen das achtzehnte, die Selbstauskunft Maxie Wanders. Denn sie ist ja als Fragende unsichtbar anwesend. Auch die Tagebücher sind nachlesbar. Ihre Selbstbefragung als Krebspatientin auf Krankenhaus-Odyssee ohne Heimkehr, sie erschüttert immer noch. Maxie Wander starb mit 44 Jahren am 21. November 1977, einige Monate nachdem »Guten Morgen, du Schöne« erschienen war.
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